Elisabeth Escher
Das Fenster zum Himmel
Bernardus-Verlag, 04/2020
ISBN-13: 9783810703200
Umfang: 320 Seiten
Das Fenster zum Himmel
Auszug aus dem Roman von Elisabeth Escher
Ihr Bewusstsein wachte erst wieder auf, als sie vor dem Tor der »Schönburg«
stand, mit einer Tasche in der Hand, halb so groß wie sie selbst und halb gefüllt
mit ihren wenigen Habseligkeiten. Es war Winter geworden, und an jenem
4. Dezember sollte es auch niemals Tag werden, zu tief und schwer hingen
die Wolken über dem Land, Wolken, aus denen dicke Schneeflocken fielen,
die die Luft nicht aufzuhellen vermochten und die augenblicklich zu Wasser
wurden, sobald sie den Boden berührten. Unaufhörlich schneite es. Maries
kratzende Wollhaube war schnell durchnässt und auch der Mantel, der sie
am Hals einschnürte, war bald feucht und klamm. Sie hatten darauf bestanden,
dass Marie auch den obersten Knopf zumachen müsse. Bei diesem Wetter,
hatten sie gemeint, gehörte sich das so, obwohl der Mantelkragen doch schon
viel zu eng war. So stand Marie also da und wartete auf den Vater, der sie
abholen sollte, endlich. Denn sie hatten ihr gesagt, dass der Vater sie abholen
würde und sie nun heimkäme. Sie hörte, wie sich das Motorengeräusch eines
Fahrzeuges näherte, dann sah sie, wie ein Motorrad das Schneegestöber
durchschnitt und auf die »Schönburg« zufuhr. Schließlich konnte sie einen
Mann auf dem Motorrad ausmachen, sah ihn bald ganz genau, und erkannte,
dass es nicht der Vater war. Dieser Mann war nicht der Vater! Die Heimleiterin,
die im Schutz des Hauses hinter der verglasten Eingangstür ebenfalls auf den
Ankömmling gewartet hatte, kam nun ins Freie, um den Mann zu begrüßen
und ihn in die »Schönburg« zu bitten, um, wie Marie sie zu ihm sagen hörte,
»die notwendigen Formalitäten zu erledigen«. Als er an Marie vorbeiging,
musterte er sie mit einem Seitenblick und zwickte sie dabei mit dem Daumen
und dem Zeigefingerknöchel so fest in die nass-kalte Wange, dass sich
automatisch ihr Mundwinkel hob. »Du kannst ruhig ein wenig freundlicher
dreinschauen, schließlich hol‘ ich dich extra von hier ab«, sagte er und die
Heimleiterin fügte noch hinzu: »Benimm dich ordentlich und mach mir keine
Schande, das ist dein neuer Vater.« Das Wort »Schande« hatte Marie schon
einmal gehört, sie erinnerte sich gut daran, das war an jenem Tag gewesen, an
dem siedie Tante das letzte Mal gesehen hatte, bevor man sie hierher gebracht
hatte. »Schande« konnte nichts Gutes bedeuten.
Sie starrte das Motorrad an, das vor ihr stand, wahrscheinlich würde er sie auf diesem
Motorrad wegbringen, noch nie war sie auf einem so großen Fahrzeug gesessen.
Während sie dastand, noch immer unbeweglich, ihre Finger waren von der Kälte schon
gefühllos geworden, hörte sie, wie sich die Tür hinter ihr öffnete, wie die Heimleiterin
»Und wenn es irgendwelche Probleme mit dem Kind gibt, melden Sie sich bitte sofort bei
mir«, sagte und sie hörte die Stimme dieses Mannes, die jetzt mild und einschmeichelnd
klang. »Keine Sorge, sie wird ein schönes Zuhause haben, und die nötige Erziehung
werden wir ihr auch angedeihen lassen«. Hinter Marie schloss sich die Tür.
Nun war sie alleine mit diesem Mann, der ihr so riesig vorkam in seinen kniehohen
Stiefeln und dem Mantel, der aus demselben Material zu bestehen schien wie die Stiefel.
Eine enganliegende Kappe, die auch die Ohren bedeckte, ließ kein einziges Haar erkennen.
»So, jetzt komm«, sagte er und ging zum Motorrad. Maries Tasche schnürte er auf dem
Gepäckträger fest, dann hob er Marie hoch, wirbelte sie durch die Luft und warf sie
erneut hoch. Es schien ihm Spaß zu machen, denn er lachte immer wieder, wenn er sie
hochwarf, um sie dann mit beiden Händen gerade noch rechtzeitig aufzufangen. Als er
endlich genug von diesem Spiel hatte, setzte er sie vor sich auf den Sattel und startete
das Motorrad. Marie war schon einige Male in einem Auto mitgefahren, aber in einem
Auto gab es Glas und Blech zwischen Drinnen und Draußen, und wenn man nicht beim
Fenster hinausschaute oder wenn man die Augen zumachte, konnte man sogar meinen,
man würde sich gar nicht von der Stelle bewegen. Hier auf dem Motorrad war das eine
ganz andere Sache. Marie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie sie schneller als der
Wind durch die Landschaft flogen, …